Am Mittwoch sorgten in der Solinger Innenstadt mehrere Jugendliche für neugierige Blicke, die in kleinen Gruppen auf den Bürgersteigen hockten und dort das Pflaster bearbeiteten. Erst beim näheren hinschauen fiel den meisten Passanten auf, dass sie Stolpersteine putzten. „Die fanden es toll, dass wir das machen“, berichteten die Schülerinnen und Schüler der Theodor-Heuss-Realschule, die sich derzeit im Rahmen einer Projektwoche mit dem Thema „Solingen im Nationalsozialismus“ beschäftigen.
Für Geschichtslehrer Stefan Demren war das Projekt eine Herzensangelegenheit. „Die Schüler haben 60 Minuten Geschichte in der Woche und da geht es im Zusammengang mit dem Nationalsozialismus viel um das große Ganze und abstrakte Opferzahlen. Das betrifft die Schüler wenig. Wenn sie aber hier in der Nachbarschaft von konkreten Schicksalen erfahren, dann wird die Sache auf einmal greifbar.“ 22 Schülerinnen und Schüler aus der 9. und 10. Klasse hatten sich für das Angebot von Demren gemeldet. „Wir mussten sogar einigen absagen. Das Interesse ist sehr hoch und ich hoffe, dass wir über die Projektwoche hinaus eine AG einrichten können.“
Die Projektwoche startete mit einem Überblick, was genau Nationalsozialismus und Antisemitismus bedeuten, was zwischen 1933 und 1945 in Solingen passierte und was es mit den Stolpersteinen von Gunter Demnig auf sich hat. „Den Stolperstein für Dr. Max Waltuch, der seit 2014 direkt gegenüber unserer Schule liegt, hatten viele noch nie bewusst wahrgenommen.“ Dass auch dieser Stein nun poliert wurde, freute besonders Stephan Schäfer-Mehdi, der die Gruppe am Donnerstag besuchte. „Mein Großvater war mit Max Waltuch befreundet. Deswegen habe ich 2014 die Patenschaft für diesen Stein übernommen und Kontakt zu seiner Familie aufgenommen.“ Max Waltuch, der in Solingen bei der Stadt als Arzt beschäftigt und im Arbeitersamariterbund aktiv war, verlor als Jude kurz nach der Machtübernahme seine Stelle und entschied sich 1934 Deutschland zu verlassen. Sein Bruder Karl lebte damals bereits in New York. Der andere Bruder Ernst blieb bei seiner nicht-jüdischen Ehefrau in den Niederlanden. Dessen Tochter Ankie nahm 2014 an der Stolpersteinverlegung teil.
Insgesamt drei Stunden waren die Jugendlichen in fünf Gruppen in der Solinger Innenstadt unterwegs, ausgerüstet mit Schwämmen, Microfasertüchern und Metallreiniger. Besonders beeindruckt war eine Gruppe von Schülerinnen vom Schicksal der Familie Leven. Vater Max Leven, Redakteur der kommunistischen „Bergischen Arbeiterstimme“, war in der Pogromnacht im November 1938 in seinem Haus erschossen worden. Ehefrau Emmy und ihre zwei Töchter Hannah und Anita wurden später deportiert und ermordet. Nur Sohn Heinz konnte 1935 aus Deutschland fliehen. Die fünf Stolpersteine liegen in der heutigen Max-Leven-Gasse in der Nähe des Neumarkts. „Die Schülerinnen konnten nicht begreifen, warum das Haus der Levens so dem Verfall überlassen wird, nach allem, was man weiß, was dort ungeheuerliches passierte“, erzählte Stefan Demren von den spontanen Eindrücken.
Zum Abschluss der Projektwoche wird die Gruppe ihre Ergebnisse den Mitschülern und Eltern präsentieren, die zum Tag der offenen Tür an der Theodor-Heuss-Schule kommen.
Im Oktober ist die erste stadtweite Stolperstein-Putzwoche in Kooperation mit dem Unterstützerkreis Stolpersteine und dem Stadtarchiv geplant, an der sich zahlreiche Solinger Schulen beteiligen wollen.