Gedenken an Pogromnacht vor 74 Jahren

Am Mittag des 9. November gedachten Schüler, Lehrer, Vertreter der Stadt Solingen, der Kirchen und der jüdischen Kultusgemeinde Wuppertal am früheren Standort der Solinger Synagoge der Reichspogromnacht vor 74 Jahren und der Opfer, die zu beklagen sind. Kurz nach der gewaltsamen Zerstörung der Synagoge wurde an ihrer Stelle ein massiver Bunker errichtet, der bis heute neben dem Gymnasium Schwertstraße steht.

Leonid Goldberg, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde, zeigte sich erfreut darüber, dass die Gedenkveranstaltung nicht mehr wie früher in den dunklen Abendstunden, sondern tagsüber stattfindet und dadurch zahlreiche Jugendliche angesprochen und eingebunden werden können. „Dem wieder wachsenden Rassismus in unserem Land muss widersprochen werden. Dabei kommt es auch auf Euch an“, appelierte er an die Zivilcourage der Schüler.

Die Aufnahmen entstanden am 9.11.2012 fürs Solinger Tageblatt: „Schüler gedenken der Pogrome“

Reise nach Lodz und Riga

Ehemalige Ottilienstraße Ghetto Lodz

Unser Sommerurlaub führte uns dieses Jahr durch Polen ins Baltikum. Wir besuchten natürlich auch die Gedenkstätten in Lodz und Riga.

In Lodz haben wir den letzten Weg von Albert Tobias nachvollzogen: von seiner Unterkunft in der ehemaligen Ottilienstraße im Ghetto von Lodz, über den Bahnhof Radegast zum Schloß Kulmhof, wo man neben dem gesprengten Gebäude noch die Stelle erkennen kann, wo die Gaswagen an die Rampe fuhren, bis ins Waldlager Kulmhof, wo mehrere 10.000 Opfer aus ganz Europa verscharrt wurden.

In Riga weiß man weit weniger über das genaue Schicksal der westeuropäischen Juden, die wie Julie Tobias und Gustav Tobias mit seiner Familie im Winter 1941/42 hierhin deportiert wurden. Das kleine Ghettomuseum ist noch im Entstehen begriffen. Derzeit wird ein typisches Holzhaus, wie es damals im Ghetto stand, rekonstruiert und mit typischen Einrichtungsgegenständen versehen. Der Bereich des damaligen Ghettos ist vielfach noch im damaligen Zustand erhalten, wird aber wahrscheinlich in den kommenden Jahren mehr und mehr verschwinden und der heutigen wachsenden Stadt Riga Platz machen.

Letzte Briefe

Postkarte an Julie
Postkarte von Albert an Julie, Quelle: Staatsarchiv Lodz, APL PSZ 2318 (L-20932 II) Bl. 1444

Aus dem Staatsarchiv Lodz haben wir jetzt Scans der Postkarten von Albert Tobias und seines letzten Briefs an die Lagerleitung vor dem Transport ins Vernichtungslager Kulmhof bekommen.

Am 6. Dezember 1941 schrieb er an seine Schwester Julie und wahrscheinlich an seinen Sohn Siegfried nach Mülheim. Die Postkarte wurde, wie so viele andere, wegen Überlastung des Postamtes nicht befördert. Seine Schwester hätte die Karte wahrscheinlich auch nicht mehr erreicht, denn sie wurde am 10./11. Dezember selber nach Riga deportiert. Siegfried war zu der Zeit als Rekrut in Aalborg/Dänemark stationiert, obwohl er als Halbjude gar nicht mehr hätte eingezogen werden dürfen.

Empfänger: „Fräulein Jula Tobias, Mülheim a.d. Ruhr, Auerstraße 23“
Absender: „Albert Tobias, Litzmannstadt/Ghetto, Ottilienstraße 8“
Datum: 6.12.41

Litzmannstadt 6. XII. 41
Meine liebe Jula und allerliebster [Herzchtügg?]
Persönlich konnte mich überzeugen und danke recht herzlich für die Grüße durch Herrn Lagerleiter Wolf und hab mich richtig gefreut endlich ein Lebenszeichen zu sehen, unterdessen habt ihr noch meine Adresse erhalten und hoffe ich, dass Ihr alle wohlauf seid, bin G.s.d. auch gesund. Fräulein Henle und Frau Mann hab auch schon getroffen, Bleibt mir nur gesund, dies ist mein einzige Sorge, grüßt und Küßt Euch herzinnig und bin euer Euch liebender Albert und Vati.
Schild und Brünell lassen grüßen.
Erwarte Briefe von Euch.

Dr. Kurt Wolff, Mitglied der Kölner Synagogengemeinde, war zum Leiter des Kölner Kollektivs I bestimmt worden, das eine Woche vor Alberts Transport von Köln nach Lodz deportiert worden war. In welcher Form er Albert Nachricht von seiner Schwester Julie übermitteln konnte, wissen wird nicht. Viel mehr als allgemeine Grußfloskeln waren nach den Zensurrichtlinien nicht erlaubt. Fräulein Henle und Frau Mann waren Freundinnen von Alberts Schwester Lina und Bruder Max. Mit Brünell ist wahrscheinlich Hertha Brünell gemeint, die mit ihrem Mann bis 1938 ein großes Konfektionswarengeschäft in Goch betrieben hatte. Ihr Mann war nach seiner Haft wegen Devisenvergehen nach Shanghai emigriert. Ihr und den beiden Kindern gelang die Flucht nicht mehr.

Der letzte Brief
Letzter Brief von Albert Tobias, Quelle: Staatsarchiv Lodz, APL PSZ 1289 (L-20932 II) Bl. 896

Am 30. April 1942 schreibt Albert Tobias eine Eingabe an die Kommission für Neueingesiedelte, da er eine Aufforderung zur Umsiedelung erhalten hat. Er bittet um Zurückstellung von diesem Transport, aber sein Gesuch wird abgelehnt und so wird er am 4. Mai 1942 ins Vernichtungslager Kulmhof deportiert.

Empfänger: „An die Kommission für Neueingesiedelte“
Absender: „Albert Tobias, Marysin, Block 19/4, Ottilienstraße 8“
Datum: Litzmannstadt, 30.4.42

Ich erhielt heute von der Ausweisungs-Kommission die Ausreise-Aufforderung für den 2. Mai.

Ich bin mit einer Arierin verheiratet gewesen, im April 1939 bin ich geschieden worden, in der Ehe sind 2 Söhne zur Welt gekommen im Alter von heute 20 + 23 Jahre, beide sicher im Arbeitsdienst gewesen und zur Zeit Soldaten im Felde, ich bitte aus diesem Grunde um Zurückstellung der Ausweisung.

Hochachtend Albert Tobias

Unten in der Mitte sieht man den Stempel von der Rückseite durchscheinen: ODMOWA – Abgelehnt

Atelier Güldenring

Julie Tobias 1939
Julie Tobias 1939

Das Foto von Julie Tobias hat zunächst viele Fragen aufgeworfen. Die ältere Schwester von Albert Tobias lebte in Mülheim an der Ruhr, aber die Aufnahme ist im Fotoatelier Güldenring in Solingen entstanden. Auf der Rückseite ist das Datum 19. Februar 1939 mit Bleistift notiert. Zu diesem Zeitpunkt war Albert gar nicht in Solingen, sondern stand kurz vor seiner Entlassung aus dem KZ Dachau. Inzwischen haben wir herausgefunden, dass Else Güldenring, die Ehefrau des Fotografen, eine geborene Carsch aus Mülheim war und die Schwester von Julies Freundin Adele Carsch.

Adele, die zusammen mit ihren beiden Schwestern nach Lodz deportiert wurde, schrieb im Dezember 1941 eine Postkarte an Julie nach Mülheim:

Liebe Julla! Nun gehen unzählige Karten von allen möglichen Leuten in die Heimat, und ich freue mich, dir nach dort schreiben zu können. Es geht uns soweit ganz gut, nur habe ich vergessen manches mitzunehmen; auch das, was wir immer bei Woolworth holten. Hoffentlich ist bei Dir noch alles in Ordnung.

(Staatsarchiv Lodz, APL, PSZ, Sign. 2221, L 20935, Blatt 603 und Blatt 604)

An der Bachstraße in Mülheim liegen vier Stolpersteine für die Familie Carsch.

Artikel zum 70. Todestag

ST20120505english translation below

„Geschwiegen hat auch die Familie”
Solinger Tageblatt vom 5. Mai 2012

Wir gedenken heute Albert Tobias und aller Opfer, die in Kulmhof und an anderen Orten umgebracht wurden und denen nie ein Grabstein gesetzt werden konnte.

Tihejeh nischmato zerurah bizror hachajim – Möge seine Seele eingebunden sein in das Bündel des Lebens.

P.S.: Wenn es auch im Artikel nicht zur Sprache kommt, möchte ich an dieser Stelle ein großes Dankeschön an Ralf Rogge vom Solinger Stadtarchiv loswerden, der meine Arbeit immer tatkräftig unterstützt hat. Und natürlich allen anderen, die ihren Teil zur Recherche beigetragen haben.


70 years after Albert Tobias‘ violent death at Kulmhof I published an article about our research on him in the Solinger Tageblatt of May 5, 2012:

Even his family remainded silent

Actually it was just a simple history class homework of my 11 year old daughter Noa that started a tremendous family research last fall that is still increasing. „Write down your ancestors up to your greatgrandparents” was the task for 5th grade at Humboldtschool. I already had a family tree of my own family going back to the 18th century, gathered up from several church archives. But on my husband’s side there were many question marks left, most of all concerning his grandfather Albert Tobias.

The jewish grandfather Albert Tobias was considered missing at the Ghetto of Lodz. Today at Menzelstr. 15, the former home of the family, there lies a „Stolperstein” showing the scarce dates of a life that was violently aborted by the Nazis. But there was no photograph, no story, no familial rememberance. Many families are familiar with the big silence after WWII. But not only culprits and followers remained silent, even the victims did so in many cases. Especially those who lived in the legal grey area of the so called „mixed wedlocks” for years, those who could never be sure how
long and by which kind of behaviour the „arian” part of the family will be able to protect the jewish part and when they will be targeted themselves as well.

Albert Tobias, a young sales clerk from Neuwied, ended up at a military hospital in the Bergisches Land during WWI. Here he came to know the protestant young woman Antonie Jacoby. After their wedding and the birth of their first son he opened a mens‘ clothing shop in Antonie’s hometown Wald, then an autonomous town in the district of Solingen.

This business existence which later should have assured the sons‘ livings as well was smashed in smithers during the nationwide „Pogromnight” in november 1938. Albert was arrested and deportet to Dachau. At this threatening situation Antonie made a momentous decision – she filed for divorce. That’s the point where all stories break off.

The time of the contemporary witnesses is elapsing. We could talk to a niece of Albert we were completely unaware of before our research. She died all of a sudden right before a planned meeting in february. Nevertheless it was a thrilling experience to hear somebody say: „Uncle Albert was such a dear man! My father got him back from Dachau and he lived with us at Cologne untill he had to go to Lodz.”

The letter his younger brother Max wrote in order to espouse his dismissal is part of the Gestapo-file at the state archive of Northrhine-Westphalia. There also is kept the denazification-file of Eugen Kemper by which we get to know that the accountant from Wald not only took care of the bookkeeping but was friends with Albert as well. The NS-documentation-center of Cologne told us that there are postcards from the Ghetto that have never been delivered at the state archive of Lodz. Albert wrote several ones: to his sister at Mülheim and to his son, to friends at Cologne.

The most important document for us however is Albert Tobias‘ last letter he wrote to the camp administration. Albert got a note at the end of april 1942 saying he will be resettled to a work camp. Most of the affected people anticipated what this meant. Albert too pleaded for deferment. He argued his sons were soldiers on the battle field by that time.

His request was declined. On may 4, 1942 the 50 year old Albert and another 1000 ghetto-inhabitants were deported to Kulmhof/Chelmno. It was the birthday of his eldest son. Probably Albert was murdered by exhaust gases from a converted truck the next morning – exactly 70 years from today. Until may 15 there were more than 10.000 murdered at Kulmhof. It was just one of several waves of destruction.

The initial history class homework meanwhile became an expansive project about a widely ramified jewish family from the Westerwald. Many members died in Europe, some managed to emigrate and very few are still living in Germany. Almost daily there are new pieces in the puzzle found. The next step will be an article for the annual report of the Bergisch history society.

Jüdische Familiengeschichte aus dem Rheinland