Julie Tobias wird am 3. August 1886 als Tochter von Moses und Jettchen Tobias in Heimbach-Weis bei Neuwied geboren. Sie ist das fünfte von neun Kindern. Der Vater hat eine Metzgerei, die vom ältesten Sohn Moritz übernommen wird. Die anderen Geschwister zieht es weg vom Elternhaus. Die jüngeren Brüder Albert und Max folgen Julie in die Textilbranche, die in Neuwied unter der jüdischen Bevölkerung eine starke Tradition hat.
Die Stadt Mülheim, wo Julie zuletzt lebt, schreibt zum Stolperstein für Julie „Juliane” Tobias:
Juliane Tobias wohnte ab 1928 in Mülheim an der Ruhr. Über die Zeit vor 1928 liegen keine Informationen über ihr Leben vor. Sie war Verkäuferin im Textilfachbereich und zuletzt Abteilungsleiterin der Firma Rachelmann & Co. in Mülheim. Allerdings war sie seit April 1933 erwerbslos, da ihr die Berufsausübung durch die Nationalsozialisten verboten wurde. Zuerst zog sie in die Kalkstraße 3, wo sie von August 1928 bis Januar 1933 wohnte. Hier mietete sie bei Heinrich Krüger ein möbliertes Zimmer in seiner Wohnung. Nach Aussage ihres Vermieters arbeitete sie während dieser Zeit bei einer Firma in Wuppertal-Elberfeld und als Abteilungsleiterin bei der Firma Husten in Duisburg.
Von 1933 bis 1938 wohnte Juliane Tobias in der Bülowstraße 26, war aber dort laut Aussage der Vermieterin nicht als Mieterin eingetragen. Wahrscheinlich war sie Untermieterin bei der Familie des Architekten August Winter, die 1938 verzog.
Von April 1939 bis September 1939 lebte sie in der Auerstraße 23, einem der späteren sogenannten Judenhäuser. Dann zog sie für sechs Wochen nach Köln. Es ist zu vermuten, dass sie dort bei ihren Geschwistern wohnte. Im Oktober 1939 zog sie wieder zurück nach Mülheim und wohnte zunächst im Kohlenkamp 9, später in der Eppinghofer Straße 83. Dies sollte ihr letzter freigewählter Wohnsitz sein.
Nach einer Zwangseinweisung in das Judenhaus Auerstraße 23 im Oktober 1941 wurde sie am 10. Dezember 1941 nach Riga (Lettland) zwangsdeportiert. Wie es ihr dort erging und ob und wohin sie weiter verbracht wurde, ist nicht bekannt. Zum 31. Dezember 1945 wurde sie für tot erklärt.
Quelle: http://www.muelheim-ruhr.de/cms/stolpersteine_in_der_eppinghofer_strasse.html
Der Text wurde von der Stolperstein-AG der Realschule Mellinghofer Straße recherchiert. Über die Verlegung des Stolpersteins ist außerdem ein Film entstanden.
Julie ist die einzige unter den Geschwister, die ledig bleibt, dafür aber wohl umso intensiver für den Zusammenhalt der Familie sorgt. Als Patin einer von Max‘ Töchtern hilft sie 1939/40 einige Wochen im Haushalt seiner Familie in Köln mit und wohl auch bei Schwester Lina, die nach dem Tod ihres Mannes mit ihrem unehelichen Enkel und dessen nicht-jüdischer Mutter zusammen lebt, was seit den Nürnberger Rassegesetzen offiziell verboten ist.
Auch für den Bruder Albert ist Julie eine Vertrauensperson. Er schreibt ihr im Dezember 1941 eine Postkarte aus dem Ghetto Lodz. Ebenfalls erhalten geblieben ist eine Postkarte ihrer Freundin Adele Carsch aus Mülheim, die ihr auch aus Lodz schrieb. Beide Karten haben das Ghetto nie verlassen, wie so viele Nachrichten, die wegen der Überlastung des Postamtes nicht befördert wurden. Sie hätten Julie wohl ohnehin nicht mehr erreicht, denn sie wurde etwa zur selben Zeit von Düsseldorf aus nach Riga deportiert. Anders als aus Lodz sind aus Riga kaum Dokumente erhalten. Eine Ausnahme ist der Bericht von Paul Salitter, einem Polizeibeamten, der den Transport nach Riga vom 11. Dezember 1941 beschreibt:
Der für den 11.12.1941 vorgesehene Judentransport umfasste 1007 Juden aus den Städten Duisburg, Krefeld und mehreren kleineren Städten und Landgemeinden des rheinisch-westfälischen Industriegebietes. […] Der Transport setzte sich aus Juden beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters, vom Säugling bis zum Alter von 65 Jahren zusammen. Die Ablassung des Transportes war für 9.30 Uhr vorgesehen, weshalb die Juden bereits am 4 Uhr an der Verladerampe bereitgestellt waren. Die Reichsbahn konnte jedoch den Sonderzug, angeblich wegen Personalmangels, nicht so früh zusammenstellen, so daß mit der Einladung der Juden erst gegen 9 Uhr begonnen werden konnte. Das Einladen wurde, da die Reichsbahn auf eine möglichst fahrplanmäßige Ablassung des Zuges drängte, mit der allergrößten Hast vorgenommen. Es war daher nicht verwunderlich, dass einzelne Wagen überladen waren (60 bis 65 Personen), während andere nur mit 35-40 Personen besetzt waren.
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Salitter
Die Überlebende Erna Valk aus Goch berichtet über die Situation bei der Ankunft in Riga:
SS-Posten brachten uns in das Ghetto-Riga. Das war ein Stadtviertel, worin früher die Verbrecherwelt gewohnt hatte und wo man später sämtliche Juden Rigas zusammengepfercht hat. Einige Tage vor unserem Einzug in das Ghetto wurden diese dort umgebracht. Es waren mehr als 24.000. Das Blut lag noch auf der Straße und wir dachten, dass uns dasselbe Los beschieden wäre. Doch uns sollte man nach Goebbels‘ Äußerung langsam eingehen lassen wie Blumen, denen man kein Wasser gibt. Die Wohnungen, in die wir hineingetrieben wurden, waren in einem fürchterlichen Zustande, ähnlich denen nach einem Bombenangriff. So hatte die SS dort gehaust. Alles Wertvolle hatten sie geraubt. Die Schränke waren umgeworfen und alles lag durcheinander. Das gefrorene Essen stand auf dem Tisch, so wie die Menschen ihn verlassen hatte, als die Mörder kamen.
Quelle: http://wp.ge-mittelkreis.de/webfrie05/webinsch/jupage/deportation2.htm
Interview der Gedenkstätte Yad Vashem mit Hilde Schermann über die Ankunft des Düsseldorfer Transports in Riga:
Ob Julie den harten Winter überlebte oder früh als nicht mehr arbeitstauglich aussortiert wurde und ob sie in Riga Kontakt zu Gustav Tobias und seiner Familie hatte ist nicht bekannt. Das Ghetto wurde 1943 aufgelöst, die letzten Einwohner nach Auschwitz verbracht oder im KZ Kaiserwald interniert.
Die überlebenden Geschwister Max, Lina und Sophia stellen in den 60er Jahren als Erben einen Antrag auf Entschädigung und machen geltend, dass Julie aus rassischen Gründen jahrelang an ihrem beruflichen Fortkommen gehindert wurde. Sie führen an, dass ihre Schwester schon 1925 ihre Beiträge an die Angestelltenversicherung für die höchste Gehaltsklasse entrichtete. Ab 1. April 1933 war sie bis zu ihrer Deportation arbeitslos gemeldet.
Stammbaum:
Generation 1
- Julie Tobias (1886-?) Mülheim/Ruhr
Generation 2
- Moses Tobias (1854-1931) ∞ Jettchen Österreich (1848-1928) Heimbach-Weis/Neuwied
Generation 3
- Michael Tobias (1802-1858) ∞ Esther Kronenthal (1824-1899) Niederwambach/Puderbach
- Isaak Oestreich (1811-1891) ∞ Hanche Kahn (1814-1882) Langstadt/Babenhausen
Generation 4
- Tobias Herz (1758-1833) ∞ Täubchen Samuel (1774-1860) Oberdreis/Puderbach
- Joseph Moses Kronenthal (1795-1865) ∞ Johanna David (1796-1865) Dierdorf
- Nehm Oestreich ∞ Jendel Isenburger Langstadt/Babenhausen
- Abraham Kahn ∞ Sara (1773-1863) Aschaffenburg