Archiv der Kategorie: Berichte

Lebenswege Dierdorfer Juden

Michael Meyer hat seine Reihe über die Geschichte der Dierdorfer Juden fortgesetzt. Nachdem er zuerst den jüdischen Friedhof akribisch erforscht und dokumentiert hat, folgt er nun den Spuren der Ausgewanderten und Vertriebenen.

michael-meyer-lebenswege-deutscher-juden-9783739248967Der fünfte Band seiner Reihe „Erinnerung – Jüdisches Leben in Dierdorf“ heißt „Lebenswege Deutscher Juden“ und baut auf dem vierten Band „Dierdorf – Newyork-Zitti – Familienbuch Dierdorfer Juden“ auf. In zahlreichen Kurzgeschichten werden Personen, deren Familien sowie die Beziehungen zu ihrer Umwelt dargestellt. Kleine Ausflüge in die Zeitgeschichte geben einen Blick auf die damaligen Lebensverhältnisse.

Der sechste Band „Ship to Freedom“ versammelt alte Postkartenansichten und SW-Fotos der Schiffe, mit denen zunächst Auswanderer und später dann Flüchtlinge aus Dierdorf die „Neue Welt“ erreichten.

Stolpersteine in Mainz

english version below

Dr. Joan Long Salomon legte rote Rosen an den Stolperstein von Julius Hirschberger
Dr. Joan Long Salomon legte rote Rosen an den Stolperstein von Julius Hirschberger

Am 15. Oktober 2015 hatten wir glücklicherweise Gelegenheit an der Stolpersteinverlegung in Mainz teilzunehmen und dabei nicht nur die Urenkelinnen von Simon und Juliane Gaertner wiederzusehen, sondern auch Dr. Joan Long Salomon kennenzulernen, die uns beim Auffinden der Grabstätte von Sophia und Moses Mayer in New Jersey behilflich gewesen war.

Der Tag begann mit der Verlegung eines Stolpersteins für Julius Hirschberger am Hindenburgplatz 3. Joan Salomon hatte für diesen Stein die Patenschaft übernommen. Die New Yorkerin möchte in Zukunft die Geschichte derjenigen Mainzer Juden recherchieren, die keine Nachfahren haben, die sich an sie erinnern können. 2014 war sie das erste Mal in Mainz gewesen, um an der Klarastraße 29 für ihre Mutter Helina Mayer, Großmutter Jettchen und ihre Tante Ruth Stolpersteine verlegen zu lassen.

Kennkarte Julius Hirschberger
Kennkarte Julius Hirschbergers. Quelle: Zentralarchiv zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland, Uni Heidelberg

Julius Hirschberger, ein Weinhändler, hatte seine Frau 1927 während der Geburt des ersten Kindes verloren. Auch das Kind starb ein halbes Jahr später. Als der Witwer 1939 mit 61 Jahren nach Belgien floh, mittellos und hungernd in einem ungeheizten Kellerraum hausen musste, schrieb er in seiner Not an den New Yorker Governeur Herbert H. Lehman, von dem er glaubte, dass er ein Verwandter seiner Großmutter sei. Er bat ihn um warme Wäsche und eine Unterstützung, damit er nicht verhungern müsse. Er selber hinge nicht mehr am Leben, aber er wollte seiner Familie keine Schande machen. Hunderte solcher Briefe erreichten den prominenten New Yorker in dieser Zeit. Auch wenn er die Verzweifelten nicht alle durch eine Bürgschaft retten konnte, ließ er es sich nicht nehmen, auch Julius Hirschberger monatlich eine kleine Summe zu schicken, die ihm ein wenig menschliche Würde ermöglichte. Am 24. Oktober 1942 wurde Julius Hirschberger aus dem Internierungslager Malines nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Lisa, Miriam, Naomi und Eva bei der Stolpersteinverlegung an der Kaiserstr. 24
Lisa, Miriam, Naomi und Eva bei der Stolpersteinverlegung für die Ur(ur)großeltern an der Kaiserstr. 24.

Der Weg führte uns weiter an die Kaiserstraße 24, wo zwei Stolpersteine für Juliane und Simon Gaertner verlegt wurden. Auch Simon Gaertner war im Weinhandel tätig gewesen nachdem er sein Herrenbekleidungsgeschäft in Solingen 1915 hatte aufgeben müssen. Zwei seiner drei Söhne waren im ersten Weltkrieg gefallen, der dritte Sohn Willi nach dem Krieg ebenfalls im Weinhandel tätig. Auch Willi wurde während der Novemberpogrome 1938 wie alle jüdischen Männer von der Gestapo verhaftet. Das brachte seine Mutter Juliane derart in Rage, dass sie ohne zu zögern ins Hauptquartier der Gestapo marschierte und verlangte, dass man ihr den einzigen Sohn lassen solle, wo sie doch schon zwei fürs Vaterland gegeben habe. Ihre Courage zeigte Wirkung: kaum eine Viertelstunde später konnte Willi das Gefängnis verlassen.

Golden wedding of Simon and Juliana Gaertner in Mainz in 1937, together with son Willi, his wife Johanna and granddaughter Elsbeth. Source: Elsbeth Lewin
Goldhochzeit von Simon and Juliana Gaertner 1937 in Mainz, zusammen mit Sohn Willi, Schwiegertochter Johanna und Enkelin Elsbeth. Quelle: Naomi Lewin

Willi Gaertner emigrierte mit Frau und Tochter in die USA. Sein Vater Simon starb 1940 in Mainz an einem Herzanfall und wurde auf dem jüdischen Friedhof beerdigt. Es gelang Willi nicht, seine Mutter Juliane in die USA nachzuholen. Sie wurde am 27. September 1942 nach Theresienstadt deportiert und starb dort am 15. Dezember 1942.

Naomi Juliane Lewin, älteste Enkelin von Willi Gaertner, war mit ihren beiden Schwestern Miriam und Eva und deren Tochter Lisa aus den USA nach Mainz gekommen. Da Naomi vor Jahren am Mainzer Peter Cornelius Konservatorium Gesang studiert hat, hielt sie ihre Ansprache auf deutsch:


On October 15, 2015 we were happy to join the Stolperstein laying in Mainz and meet the great grand daughters of Simon and Juliane Gaertner again, but also get to know Dr. Joan Long Salomon, who helped us finding the gravesite of Sophia and Moses Mayer in New Jersey.

The day began with the laying of a stone for Julius Hirschberger at Hindenburgplatz 3. Joan Salomon sponsored this stone since she planned to research the fate of Jewish victims of Mainz that have no descendants to remember them. She first visited Mainz in 2014 to have Stolpersteine laid for her mother Helina Mayer, her grandmother Jettchen and her aunt Ruth at Klarastraße 29.

Julius Hirschberger, a wholesale dealer in wine, lost his wife in childbirth in 1927. His child died only six months later. When the 61 year old widower had to flee to Belgium in 1939, dwelling in an unheated cellar, hungry and out of money, he wrote to the New York governor Herbert H. Lehman. He belived that Lehmann was a relative of his grandmother and begged for warm underwear and a little money to buy some food. He didn’t cling to live but didn’t want to put his family to shame. Hundreds of such letters reached the prominent New York citizen at the time. Although he couldn’t save all of the desperate with an affidavit, he didn’t miss to send a monthly small amount to Julius Hirschberger as well, to give him back a bit of human dignity. On October 24, 1942, he was deported from the camp of Malines to Auschwitz where he was murdered.

We moved on to Kaiserstraße 24 where two Stolpersteine for Simon and Juliane Gaertner were laid. Also Simon Gaertner had been in the wine business after he had to give up his men’s clothing shop in Solingen in 1915. He lost two sons in WWI. His third son Willi also became a wine dealer after the war.  Willi was arrested by the Gestapo during Kristallnacht like all of the Jewish men. This made his mother Juliane so furious that she didn’t hesitate to step right into the headquarters and demand her son back, because she already gave two sons for the country. Her courage made an impact: only 15 minutes later Willi was released from the prison.

Willi managed to emigrate to the USA with his wife and daughter. His father Simon died in Mainz in 1940 from a heart attack and was buried in the Jewish cemetery. Willi didn’t suceed in getting his mother out of Germany. Juliane was deported to Theresienstadt on September 27, 1942 and died there on December 15, 1942.

Naomi Lewin, the oldest grand daughter of Willi Gaertner, came to Mainz with her sisters Miriam and Eva and Eva’s daughter Lisa. Since Naomi once studied voice at the Peter Cornelius conservatory of Mainz she held her speech in German:

Webseite zum jüdischen Friedhof in Solingen

Jüdischer Friedhof Solingen
Vorne: Henriette Coppel, geb. Emden (1779-1862), hinten: Familiengräber der Coppel und Geisenheimer.

Der jüdische Friedhof in Solingen am Estherweg ist das einzige und letzte öffentlich sichtbare Zeugnis der hiesigen jüdischen Gemeinde. Erstmals um 1718 erwähnt fand die letzte Beerdigung 1941 statt. Die gut erhaltenen Grabsteine spiegeln die Geschichte von einfachen Händlern bis zu Fabrikanten-Dynastien wie der Familie Coppel beispielhaft wieder.

1987 hat die Städtische Gesamtschule Solingen die Patenschaft für den Friedhof übernommen. Im kommenden Schuljahr wird die Schule nach dem jüdischen Industriellen Alexander Coppel benannt werden, der sich als Kurator des Coppel-Stifts für das soziale Wohl seiner Stadt in besonderer Weise engagiert hat. Er kam 1942 in Theresienstadt ums Leben.

AG Jüdischer Friedhof im März 2015.
AG Jüdischer Friedhof im März 2015.

Über den jüdischen Friedhof und die Arbeitsgemeinschaft der Schule, die sich um die Pflege der Gräber und den Kontakt mit Nachfahren sowie um die Aufarbeitung der Geschichte unter Leitung von Michael Sandmöller und Simone Sassin kümmert, gibt es jetzt eine eigene Webseite, die auch über regelmäßige Führungen informiert:

juedischer-friedhof-solingen.de

Generationenwechsel der Zeitzeugen

Am 4. Februar 2015 waren am Humboldtgymnasium Solingen eine Überlebende des Holocaust und eine Zeitzeugin der zweiten Generation zu Gast, um den Schülern von ihren Erfahrungen zu berichten. Die Begegnung fand auf Vermittlung des Rutenberg-Instituts (Haifa) und der Initiative „NRW für Israel“, (Düsseldorf) statt.

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Shoshana Direnfeld und Silvi Behm.

In der Mediothek des Humboldtgymnasiums ist an diesem Morgen jeder Stuhl besetzt. Über 70 Schüler warten auf den angekündigten Besuch aus Israel. Die 15- bis 17-jährigen sind Teilnehmer des Austauschs mit einer Partnerschule in Tel Aviv, Schüler zweier Religionskurse und eines Geschichtskurses, der im Mai nach Auschwitz fahren wird. Für sie ist das Thema „Holocaust“ nicht neu. Die Begegnung mit Menschen, die die Verfolgung noch selbst erlebt haben, weckt jedoch angesichts des heute hohen Alters der Überlebenden besondere Erwartungen. „Wir sind das, womit wir uns beschäftigen, was wir an uns ranlassen,“ sagt Lehrer Rolf-Joachim Lagoda zur Begrüßung.

Vorne am Tisch nehmen drei Frauen Platz: Silvi Behm, Leiterin des Rutenberginstituts in Haifa, Shoshana Direnfeld, 1928 in Cluj/Klausenburg (Siebenbürgen) geboren, und Pnina Kaufmann, 1946 im polnischen Lodz geboren. Shoshana Direnfeld fängt an, mit leiser aber fester Stimme von ihrer Kindheit in Klausenburg zu sprechen, dem schönen Haus, in dem die Familie lebte. Acht Geschwister waren sie. 1940 kamen die Deutschen und nahmen den Juden alles weg. „Wir hatten kein Radio mehr, Zeitungen gab es für uns auch nicht. Wir wussten nichts von dem, was Hitler in den anderen Ländern mit den Juden machte.“ Generationenwechsel der Zeitzeugen weiterlesen

70 Jahre nach dem Ende von Auschwitz

Solange ich lebe, werde ich darunter leiden, dass die deutsche Nation mit ihrer so achtenswerten Kultur zu den ungeheuerlichsten Menschheitsverbrechen fähig war. Selbst eine überzeugende Deutung des schrecklichen Kulturbruchs wäre nicht imstande, mein Herz und meinen Verstand zur Ruhe zu bringen. Da ist ein Bruch eingewebt in die Textur unserer nationalen Identität, der im Bewusstsein quälend lebendig bleibt.

So bekannte Bundespräsident Joachim Gauck am 27. Januar anläßlich des 70. Jahrestags der Befreiung des KZ Auschwitz.

KZ Auschwitz, Einfahrt
Auschwitz am 27. Januar 1945 nach der Befreiung. Im Vordergrund von den Wachmannschaften zurückgelassene Ausrüstungsgegenstände. Quelle: Bundesarchiv, B 285 Bild-04413 / Stanislaw Mucha / CC-BY-SA

Auschwitz war nur eines von vielen Arbeits- und Vernichtungslagern, die es durchaus nicht nur weit weg im Osten gab. Es fällt schwer, in Grausamkeitskategorien zu denken, aber das Schicksal von Walter Tobias und seiner Familie gehört für mich zu den unerträglichsten. Seine schwangere Frau Selma und die fünf Kinder wurden sogleich bei der Ankunft in Auschwitz ermordet, er selber für die Arbeit in den Buna-Werken selektiert. Fast zwei Jahre überlebte er im Arbeitslager Auschwitz-Monowitz – wahrscheinlich nur weil er als Handwerker für die Deutschen so nützlich war.

Wenige Tage, bevor die Russen Auschwitz befreiten, wurde Walter zurück nach Buchenwald verlegt. Auch hier selektierte man ihn für einen Arbeitseinsatz.

Aber auch die Befreiung Buchenwalds durch die Amerikaner sollte Walter nicht erleben, sondern wurde am Vortag auf einen weiteren Marsch gesetzt, diesmal Richtung Theresienstadt. Handwerkliche Fähigkeiten spielten auf diesem Todesmarsch keine Rolle mehr. Zehn Tage nach Kriegsende starb Walter in Theresienstadt an den Folgen sinnloser Gewalt, willkürlicher Ausbeutung und der totalen Negierung seiner Menschenwürde.

Und doch muss uns bewusst sein, dass das „nie wieder!” angesichts solcher Schicksale einfacher gesagt als getan ist, denn es gibt auch heute grausame, systematische Menschenrechtsverletzungen. Das mindeste, was wir tun können, ist Flüchtlingen Schutz zu bieten und das Recht auf Asyl wieder ernst zu nehmen, das ja nicht zuletzt aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs heraus entwickelt wurde. Für Walter und seine Familie war ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Flucht mehr möglich.

„Schützt und bewahrt die Mitmenschlichkeit. Schützt und bewahrt die Rechte eines jeden Menschen. Das sagen wir gerade in Zeiten, in denen wir uns in Deutschland erneut auf das Miteinander unterschiedlicher Kulturen und Religionen zu verständigen haben. Die Gemeinschaft, in der wir alle leben wollen, wird nur dort gedeihen, wo die Würde des Einzelnen geachtet wird und wo Solidarität gelebt wird,” schloß Joachim Gauck seine Rede vor dem Bundestag.

Reichswerke Göring

Reichsgrenze 1938
Reichsgrenze am Westwall, Eifel 1938

Die andere Seite der Geschichte: was war eigentlich mit meinen Großeltern? Die Geschichten von den vielen Kindern aus der Verwandschaft, die damals vorübergehend im Haus meiner Oma unterkamen, die Berichte von den Hamstertouren aus der Nachkriegszeit, die kannte ich. Mein Opa, Ernst Kraft aus Wissen an der Sieg, war während des Krieges als Arbeiter in einem kriegswichtigen Unternehmen und deswegen nicht an der Front gewesen. Gut. Aber er war nicht in seinem Heimatort beschäftigt gewesen, sondern in Braunschweig, genauer gesagt in Watenstedt.

Es gibt kein Hochzeitsfoto meiner Großeltern, denn sie hatten im März 1943 eine Ferntrauung. Mein Onkel kam im September 1943 zur Welt und war angeblich ein ziemlich propperes Kerlchen bei der Geburt. Meine Oma, Hilde, war damals 22 Jahre alt und arbeitete in der Pulverfabrik im Nachbarort, wie viele junge Frauen aus der Umgebung. Die Männer waren ja beim Militär.

Aber wo genau mein Opa eigentlich gearbeitet hatte, danach hatte ich nie so genau gefragt. Umso erstaunter war ich, als ich vor 3 Jahren von den „Reichswerken Hermann Göring” las. Das 1937 gegründete Staatsunternehmen sollte zu einem nationalsozialistischen Musterkonzern entwickelt werden. In Salzgitter entstand ein riesiges Eisenhüttenwerk, das schnell expandierte, Tochterunternehmen gründete und vor allem auf Rüstungsproduktion ausgelegt war, darunter die Stahlwerke Braunschweig GmbH mit ihrem Werk in Watenstedt. Die Herstellung großer Mengen an Waffen und Munition, die die Deutsche Wehrmacht seit Kriegseintritt brauchte, war mit volkseigenen Arbeitskräften jedoch in keiner Weise zu bewerkstelligen.

Kriegsgefangene, Häftlinge, Sinti, Roma und Juden wurden daher in großem Stil zur Zwangsarbeit eingesetzt. Auch Männer und Frauen, die nach wie vor gegen den Nationalsozialismus oponierten, wurden zur Arbeitserziehung im Lager Watenstedt interniert. Sie mussten unter unmenschlichen Umständen schwerste körperliche Arbeit verrichten und wurden oft zusätzlich mishandelt, die Unterbringung und Verpflegung waren katastrophal, Todesfälle keine Seltenheit.

Mein Opa war vor dem Krieg Dreher im Walzwerk gewesen. 1938 musste er zum Arbeitsdienst an den Westwall in der Eifel. Soweit ich das verstanden habe, hat er diese Zeit stumpfsinniger Arbeit gehasst. Die Eifel zählte später deswegen explizit nie zu seinen Urlaubszielen.

Heimaturlaub
Mein Opa auf Heimaturlaub bei meiner Oma

Wann genau er dann zur Wehrmacht eingezogen wurde weiß ich nicht. Alle Unterlagen aus der Zeit haben meine Großeltern „entsorgt”. Von der Wehrmachts-Auskunftstelle Berlin bekam ich die Information, dass er am 29. Juni 1940 als Schütze beim Infanterie Ersatz-Bataillon 485 in Sieradz stationiert war, vermutlich zur Ausbildung. Direkt nach dem Überfall auf Polen hatten die Deutschen hier unter Vertreibung der Einwohner ein Truppenübungsgelände angelegt. Das Frühjahr 1940 war die Zeit, als die Deutschen Besatzer die polnischen Juden in Ghettos zusammentrieben. In Sieradz gelang es zunächst nicht, den Ghettobezirk komplett abzuriegeln, es gab lediglich Posten an den Straßenausgängen, die mit Schutzpolizisten besetzt waren. Ob die jungen Rekruten davon außerhalb ihres Truppenübungsgeländes etwas mitbekommen haben?

Zwischen dem 20. und 30. August 1940 lag mein Opa wegen einer Darmerkrankung im Reservelazarett II in Litzmannstadt/Lodz und wurde von dort zurück nach Wittlich gebracht. Am 19. Oktober 1940 zog er mit dem Infanterie-Regiment 485 zum Küstenschutz nach Bordeaux, und vom 10. November 1941 bis Februar 1942 war er in Commercy, Lothringen stationiert.

Am 18. Februar 1942 wechselte er schließlich zurück an die „Heimatfront” und begann seine Tätigkeit in der Munitionsfabrik Watenstedt. Vielleicht hatte sich sein älterer Bruder Walter dafür eingesetzt. Er war zu der Zeit bei der SS in Braunschweig, wahrscheinlich in der dortigen Junkerschule, und wusste sicherlich, dass die Reichswerke händeringend nach qualifizierten Facharbeitern suchten.

Die deutschen Arbeiter wurden zwar mit überdurchschnittlich gutem Lohn und Vergünstigungen gelockt, aber es wurde von ihnen auch überdurchschnittlicher Einsatz erwartet. Der nationalsozialistische Musterbetrieb forcierte ein neues Arbeitsethos: „Bummelanten” wurden zu wertlosen Un-Menschen erklärt. Arbeit war alles, worüber sich der Wert des Volksgenossen hier definierte. Kontrolle war allgegenwärtiges Prinzip, gegenseitig ebenso wie durch die Hierarchien hindurch. Gleichzeitig gab es in Bezug auf die Zwangsarbeiter das Prinzip der „Vernichtung durch Arbeit”. Die Ausprägung der Gewalt variierte. Juden standen auf der untersten Stufe.

Mein Opa war Vorarbeiter bei der Bombenfertigung in Halle 16, er hatte Franzosen unter sich. Es waren wohl keine Kriegsgefangenen, sondern angeworbene Arbeiter, die aber keineswegs immer ganz freiwillig nach Deutschland gekommen waren. Mein Opa nannte sie „dienstverpflichtet”, ebenso wie er selber es gewesen sei. Dass dieses Bild gewaltig Schlagseite hatte, ist offensichtlich. An weitere Einzelheiten konnte oder wollte er sich mit 91 Jahren nicht erinnern. Nur so viel: „Es war nicht leicht für die Franzosen, an Bomben zu arbeiten, die gegen die eigenen Leute eingesetzt wurden.”

Ich möchte gerne annehmen, dass er „seine” Arbeiter anständig behandelt hat. Ob er jedoch immer den nötigen Spielraum dazu hatte, weiß ich nicht. Es gab Quoten, die schwer zu erfüllen waren, vor allem, wenn die Maschinen und Werkzeuge nicht mehr im besten Zustand waren. Kam es zu Ausfällen, mussten die Schwächsten in der Kette dafür büßen.

Ich gehe davon aus, dass mein Opa gesehen hat, was mit den anderen Zwangsarbeitern in Watenstedt passierte, denjenigen, die keine Fachkräfte waren, sondern „Untermenschen”, die einfach verbraucht wurden, deren billiger Tod mit einkalkuliert wurde. Was bleibt von solchen Bildern hängen? Wie kann man sich diesen Dingen entziehen? Es war mir nicht mehr möglich, am Ende seines Lebens solche expliziten Fragen zu stellen, die den ganzen Horror wieder an die Oberfläche geholt hätten. Es war offensichtlich, dass er Erinnerungen verdrängte und verdrehte, so wie man es den jungen Leuten damals beigebracht hatte. Sie wurden dazu erzogen, „Opfer zu bringen“ auf dem Weg in die vermeintlich strahlende Zukunft des deutschen Herrenvolks, und dazu zählte unter anderem das Überwinden von Empathie. Wer nicht daran glaubte, hielt auch lieber den Mund, vor allem, wenn er tagtäglich erleben konnte, wo oben und ganz unten in der Gesellschaft war.

Fraesbank
Mein Opa an der Fräsbank, wahrscheinlich bei der mobilen Werkstatt-Kompanie

Im August 1944 kam mein Opa zum Grenadier Ersatz-Bataillon 588 nach Hannover. Ab Dezember 1944 war er mit der schweren Werkstatt-Kompanie 2/19 in Radom, Schlesien und Mähren unterwegs. An der Grenze zwischen Bayern und Tschechien seien sie damals gegen Kriegsende nachts von Amerikanern unter Beschuss genommen worden. Es sei das einzige Mal gewesen, dass er selber geschossen hätte. Aber es war stockfinster, er schoss blind in die Luft, ihr Fahrer gab Gas und sie kamen irgendwie durch. Am Geburtstag meiner Oma, Ende März 1945, war er wieder zu Hause.

Zu Hause – das war ganz in der Nähe von Hamm an der Sieg, wo die Kinder von Hermann Tobias nun kein zu Hause mehr hatten.

Links:

Literatur: