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Erwin Joseph kam am 9. September 1919 als uneheliches Kind von Hedwig Joseph in der Hebammenlehranstalt Elberfeld zur Welt. Hedwig war die jüngste Stieftochter von Samuel Tobias. Erwins Vater galt als unbekannt und war Belgier. Da Erwin als Frühchen zur Welt kam, trug er wohl eine leichte geistige Behinderung davon.
Seine Mutter gab ihn nach der Geburt in ein Säuglingsheim nach Krefeld, da sie sich nicht um das Kind kümmern konnte. Erwin kam zu einer Pflegemutter, Rosa van Gansewinkel. Als Hedwig drei Jahren später geheiratet hatte und den Jungen zu sich holen wollte, wehrte die Pflegemutter sich mit dramatischen Szenen, so dass Hedwig sich entschloss, Erwin bei ihr zu lassen. Sie hat den Jungen auch bei weiteren Besuchen nie zu Gesicht bekommen.
Erwin blieb bis zu seinem 14. Lebensjahr bei der Pflegemutter, die dann aber keine Lehrstelle für ihn fand und ihn deswegen im Mai 1934 in die Provinzial Heil- und Pflegeanstalt St. Joseph Waldniel gab. Sie nahm an, dass man den Jungen dort auf eine Ausbildung im landwirtschaftlichen Bereich vorbereiten würde, aber für Erwin stellte sich die Einrichtung in der damaligen politischen Situation als Falle heraus. Er durfte gemäß dem 1933 erlassenen Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses das Gelände nicht mehr verlassen, bevor er nicht sterilisiert worden war.
Erwin selber ging davon aus, dass er sterilisiert werden sollte, weil er mit einem Freund Spottgedichte auf Hitler verfasst hatte und dabei erwischt worden war. Ende 1935 war er mit dem Freund aus der Anstalt ausgebrochen, wurde aber noch am selben Tag wieder aufgegriffen und zurückgebracht. Inzwischen war die Jüdin Erna Jakob aus Krefeld zu seinem neuen Vormund ernannt worden. Am 9. März 1936 wurde Erwin auf Anweisung des Anstaltsarztes und vermutlich mit Einverständnis seines Vormundes im Krankenhaus Viersen sterilisiert. Als sich im September 1936 der Franziskaner-Orden Waldniel nach NS-Schauprozessen auflösen musste, wurde er in die Heil- und Pflegeanstalt nach Düren verlegt und auf Gut Hommelsheim als Landarbeiter eingesetzt.
Wie es im April 1939 dazu kam, dass Erwin seine leibliche Mutter in Elberfeld besuchte, ist nicht ganz klar. Sie hatte Papiere besorgt, die belegen sollten, dass er nicht Volljude sondern Halbjude war. Sein Vater blieb zwar unbekannt, aber ein Argument war, dass er eine katholische Nottaufe erhalten hatte. Jedenfalls stellte Ferdinand Erdmann, den Hedwig 1929 geheiratet hatte, einen Antrag, dass Erwin bei ihnen leben könne und sie für ihn eine Arbeitsstelle besorgen würden. Dem wurde offensichtlich umgehend stattgegeben, und er fand eine Anstellung als Tiefbauer bei der Firma Hermann Garn in Barmen.
Im Juli und August 1941 saß Erwin aufgrund einer Denunziation wegen staatsfeindlicher Äußerungen mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Ende Oktober 1944 wurde er ins Arbeitslager Lönnewitz bei Torgau zwangsverpflichtet, aber im Februar 1945 wieder freigelassen. Hedwig war am 6. November 1943 in Schutzhaft genommen worden und am 10. April 1944 aus dem Polizeigefängnis Wuppertal nach Auschwitz deportiert und ermordet worden.
Erwin kam nach seiner Freilassung nach Wuppertal zurück, versuchte aber nach dem Tod seines Stiefvaters im September 1946 nach Palästina auszuwandern, da er, wie er sagte „keinen einzigen Menschen mehr habe“. Seine beiden Halbgeschwister lebten zwar noch in Wuppertal, hatten aber kaum selbst genug zum Überleben. Erwin ging wegen seiner Auswanderungspläne ins DP-Camp Bergen-Belsen, um sich registrieren zu lassen. Er wurde dort auch beschnitten, hatte aber aufgrund seiner eingeschränkten Fähigkeiten keine Chance auf eine Aufnahme in Palästina.
In Bergen-Belsen lernte er Edith Birkendahl kennen, die am 4. Juli 1923 in Solingen geboren wurde. Sie war die Tochter von Hugo Birkendahl und Maria Walter, die im 1938er Adressbuch bereits in Elberfeld als Geschäftsinhaber aufgeführt sind. Edith war von Alfred Bergmann geschieden. Sie wurde als jüdisch bezeichnet. Von Geburt an wird sie das vermutlich nicht gewesen sein. Möglicherweise war ihr erster Mann Jude und sie konvertierte deswegen. Erwin und Edith heirateten im April 1950 in Bergen-Belsen. Im Juni 1950 gingen sie gemeinsam zurück nach Wuppertal.
Als Erwin Joseph 1951 einen Antrag auf Wiedergutmachung stellte, lebte er als Flüchtling im Bunker Schwelmer Straße in Wuppertal-Langerfeld. Der „Ausschuss für die Entschädigung für Freiheitsentziehung für den Stadtkreis Wuppertal“ fand es plausibel, dass er auch für seine Zeit in Waldniel Entschädigung beantragt hatte, da er dort ihrer Ansicht nach eher wegen seiner jüdischen Abstammung als wegen Schwachsinnigkeit festgehalten worden sei und empfahl insgesamt 63 Monate à 150,– DM Entschädigung zu gewähren. Ein Mitarbeiter des Amtes für Wiedergutmachung legte gegen diesen Beschluss Beschwerde ein, denn er war der Ansicht, dass es sich bei der Unterbringung in der Heil- und Pflegeanstalt nicht um eine rassische Verfolgung gehandelt habe, sondern um eine reguläre Maßnahme, die geltenden Gesetzen entsprochen habe. Die katholische Ordensbruderschaft, die das Heim leitete, sei zudem keine Anhängerin der national-sozialistischen Rasseideologie gewesen. Die Haftzeiten in Wuppertal und Lönnewitz lagen insgesamt unter 6 Monaten, so dass keine Entschädigung mehr geltend gemacht werden konnte.
Die Jüdische Gemeinde Wuppertal, bei der Erwin Joseph zu der Zeit als Friedhofsgärtner angestellt war, versuchte ihn in dem Verfahren gegenüber dem Amt für Wiedergutmachung zu unterstützen. Sie konnten jedoch nur appellieren, Rechtsnachsicht walten zu lassen und seine besonders prekäre Situation zu berücksichtigen – ohne Erfolg.
Auch ein Antrag auf eine Rente wegen Schaden an Körper und Gesundheit wurde abgewiesen, da seine Sterilisation aufgrund eines „anlagebedingten, bzw. schicksalhaften Leidens“ angeordnet worden und darin keine Verfolgungsmaßnahme zu sehen sei, wie das Arbeitsministerium im Juni 1950 feststellte.
Im Dezember 1959 wurden Erwin Joseph aufgrund einer Gesetzesänderung 750,– DM für Schaden an Freiheit und 136,– DM für Schaden im beruflichen Fortkommen zuerkannt.
Ab März 1967 war er ständig arbeitsunfähig und beantragt eine Berufsschadensrente, da er seine gesundheitlichen Leiden (u. a. häufige Anfälle von Bewusstlosigkeit) als Folge der Verfolgung betrachtete. Auch dies wurde ihm zunächst verweigert, da zum Stichtag 1959 keine mindestens fünfzigprozentige Erwerbsminderung vorlag. Ein Amtsarzt bestätigte Erwin jedoch eine so schwerwiegende Erkrankung, dass man davon ausgehen müsse, dass er bereits 1959 nur noch zu 50% erwerbsfähig gewesen sei. Nachdem seinem Antrag schlussendlich doch stattgegeben wurde, errechnete man eine fällige Kapitalentschädigung von 27,– DM, da man sich immer noch auf die fünf Monate im Gefängnis Wuppertal und im Arbeitslager Lönnewitz bezog.
1971 wurde ein weiteres nervenfachärztliches Gutachten erstellt:
Bei der Exploration wird festgestellt, daß das stärkste Trauma seine jüdische Abstammung ist. Davon hat er sich noch nicht erholt. Er meint heute noch, daß die Menschen ihn benachteiligen würden, nur weil er Jude sei. […] Bei dieser Begutachtung muß man davon ausgehen, daß der Untersuchte auf dem Boden einer angeborenen geistigen Minderbegabung neurotisch reagiert. […] Vielleicht darf man hier auch noch ausführen, daß nach dem Kriege der Untersuchte abermals in eine Isolierung getrieben wurde, als er jahrelang in diesem sogenannten Auswanderungslager Bergenbelsen sich isolierte. […] Dabei muss hervorgehoben werden, daß der erste große seelische Knacks wohl die KZ Haft war. Die damit verbundene Entrechtung, Versagung jeder Menschenwürde, Verlust jeglicher Hoffnung stellte eine Belastung dar, die über die seelische Tragfähigkeit des Einzelnen im allgemeinen hinaus geht und hier im besonderen von einem Minderbegabten als noch schwerer empfunden wird.
Der Gutachter, der mit Erwin Josephs Geschichte im Grunde nicht viel anzufangen weiß, verwirft eine Psychotherapie. Er sei dafür zu alt und zu unintelligent. „Eine Maltherapie kann wohl keinen chronischen Versagenszustand auf der Basis einer Debilität überwinden“, urteilt er und stempelt Erwin als hoffnungslosen Fall ab, dem „die Willenskraft fehle, seine Hemmungsvorstellungen zu überwinden.“
Erwin Joseph starb 1994 und wurde auf dem jüdischen Friedhof am Weinberg begraben.
Quellen: Wiedergutmachungsakte Stadtarchiv Wuppertal und BEG-Akten Bezirksregierung Düsseldorf