Familie HERMANN GÄRTNER, Ruppichteroth

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Hermann Gärtner
Hermann Gärtner

Hermann Gärtner kam am 22. Mai 1876 in Ruppichteroth als viertes Kind von Simon Gärtner und seiner Frau Regina Nathan zur Welt. 1898–1900 diente er im 1. Regiment von Goeben, 2. Rheinisches, Nr. 28 auf der Festung Ehrenbreitstein. Der Metzger heiratete 1908 die aus Laufersweiler im Hunsrück stammende Selma Mayer (* 3. Mai 1879), Tochter von Bernhard Mayer und Bertha Salomon. Im selben Jahr kam Tochter Irma zur Welt, neun Jahre später  Sohn Paul.

Die Familie betrieb eine große Metzgerei an der Wilhelmstraße in Ruppichteroth. Hermann Gärtner diente im ersten Weltkrieg (mit einer kurzen Unterbrechung wegen eines Ischiasleidens) als Frontsoldat. 1924 kam Selma Gärtner im Hunsrück bei einem Verkehrsunfall ums Leben. 1928 oder 29 heiratete Hermann Gärtner Helene Winter aus Rommerskirchen. Sie war bis 1932 in Ruppichteroth gemeldet, verzog laut Meldekarte dann aber wieder nach Rommerskirchen. Das Ehepaar lebte seitdem offenbar getrennt. Helene wurde 1941 von Köln nach Lodz deportiert.

Selma Gärtner, geb. Mayer mit Sohn Paul und Tochter Irma.
Selma Gärtner, geb. Mayer mit Sohn Paul und Tochter Irma.

Tochter Irma besuchte um 1925 die örtliche Haushaltsschule. 1929 lebte sie für ein paar Monate in Hamburg und Berlin. Irma war öfter in Bad Buckow, einem Badeort nord-östlich von Berlin, wo sie schwimmen ging und sich mit Freunden traf. Am 5. Mai 1931 heiratete sie Hugo Tobias aus Hamm an der Sieg. Sie zogen nach Köln, wo Hugo eine Stelle bei Katz-Rosenthal bekam, einer jüdischen Metzgerei- und Imbisskette. Das Paar lebte im Hinterhaus Eigelstein 137, direkt am Platz vor dem mittelalterlichen Eigelsteintor, dem Nordeingang zur Kölner Altstadt.

Am 1. April 1933 fand der reichsweite Boykott jüdischer Geschäfte statt. Seit der Machtübernahme Hitlers protestierten Juden auf der ganzen Welt gegen dessen Politik, und einige hatten zum Boykott deutscher Waren aufgerufen. Die Nazis ordneten deshalb einen “Gegen-Boykott” an. Sie postierten an diesem Morgen SA-Männer vor jedem jüdischen Geschäft, um die Leute davon abzuhalten dort einzukaufen. Hermann Gärtner war außer sich, als ein kleines Mädchen auf Geheiß der SA das Fleisch zurückbrachte, das sie gerade bei ihm gekauft hatte. Er war so verärgert, dass er in mehrere Kneipen im Ort ging und sich dort betrank. Am Nachmittag traf er einen Nachbarn, und sie stritten sich über den Boykott. Hermann fühlte sich gedemütigt, insbesondere weil er seinem Land während des Krieges gedient hatte und einer der ersten gewesen war, die für das Denkmal der Gefallenen in Ruppichteroth gespendet hatte. Der Nachbar bestand darauf, dass es notwendig sei, etwas gegen die “Horror-Lügen” der ausländischen Presse zu unternehmen, aber Hermann widersprach ihm und glaubte nicht, dass sie lügen, da er selber von Juden gehört habe, die in Marburg misshandelt worden seien.

Metzgerei Gärtner, Ruppichteroth
Metzgerei Gärtner, Ruppichteroth

Ein paar Tage später wurde Hermann in „Schutzhaft” genommen, nachdem der Nachbar Parteimitgliedern von dem Gespräch erzählt hatte. Der Bürgermeister war „besorgt”, dass die Leute wütend werden und ihn angreifen könnten. Hermann hatte ihm erst ein paar Tage zuvor einen anonymen Drohbrief aus Waldbröl gezeigt, der ankündigte, dass man ihn am 28. März erschießen wolle, wenn er Ruppichteroth bis dahin nicht verlassen habe. Der Nachbar hatte ausgesagt, dass Hermann behauptet habe 300 Juden lägen in Marburg im Krankenhaus nachdem sie von Nazis zusammengeschlagen worden seien. Hermann konnte sich weder an das Gespräch, noch an die Zahl von 300 Juden erinnern.

Nach einem Monat im Gefängnis von Siegburg wurde er entlassen, nur um zwei Monate später erneut verhaftet und ins berüchtigte Gefängnis Klingelpütz nach Köln gebracht zu werden. Das Sondergericht am Appellhofplatz klagte ihn wegen “falscher und verleumderischer Anschuldigungen gegen den Nationalsozialistischen Staat” an. Obwohl während des Verfahrens mehrere Zeugen aussagten, dass Hermann Gärtner an dem Tag betrunken gewesen war, behauptete der Nachbar, keinerlei Anzeichen von Trunkenheit bemerkt zu haben. So entschied das Gericht, dass Hermann voll verantwortlich für seine “falschen Anschuldigungen” sei und verurteilte Hermann zu zehn Monaten Haft.

Irma and Hugo's wedding at Ruppichteroth
Hochzeit von Irma and Hugo in Ruppichteroth

Für Irma brach eine Welt zusammen: ihr Vater hinter Gittern; ihr Mann Hugo hatte seinen Job bei Katz-Rosenthal Ende April verloren; sie war im sechsten Monat schwanger und ihr 16 Jahre alter Bruder Paul trieb sich herum und hatte niemanden, der sich richtig um ihn kümmerte. Helene, die zweite Frau von Hermann, hatte ihre Sachen gepackt und war zurück zu ihrer Mutter nach Rommers­kirchen gezogen. Irmas 90 Jahre alter Großvater Simon war ebenfalls von Hermanns Einkommen als Metzger abhängig. Agnes Müller, eine Nachbarin vom Eigelstein und Mitglied der NSDAP, war erschüttert vom Schicksal der Familie und schrieb einen Brief ans Gericht, in dem sie um Gnade bat und die Befürchtung äußerte, dass sich Irma und Paul aus Verzweiflung das Leben nehmen wollten. Irma und Helene reichten ebenfalls Gnadengesuche ein, und Hermann schrieb einen Brief an den Ministerpräsidenten Hermann Göring, in dem er darum bat, wenigstens die Zeit in der Untersuchungshaft anzurechnen. Alle Anträge wurden abgelehnt. Er musste jeden einzelnen Tag seiner zehnmonatigen Haftstrafe absitzen.

Als Hermann Gärtner Ende März 1934 entlassen wurde, war sein Enkel Wolfgang bereits sechs Monate alt. Wolfgang war am 22. September 1933 in der Wohnung seiner Eltern am Eigelstein zur Welt gekommen. Man kann annehmen, dass Irma und Hugo nach dieser Erfahrung sofort versuchten, Visa für ihre Ausreise zu bekommen. An diesem Punkt gab es nur noch wenig Hoffnung auf eine Besserung der Lage. Paul schaffte es ca. 1937 nach Palästina auszuwandern. Hugos Bruder Julius war der erste, der im Oktober 1937 in die USA ging. Hugo und Irma gaben ihr letztes Geld für die Überfahrt mit der “SS Berlin” aus, die  am 11. Dezember 1937 von Bremerhaven ablegte.

Als Hugo, Irma und ihr vierjähriger Sohn Wolfgang schließlich am 21. Dezember in Ellis Island ankamen, waren die drei zwar in Sicherheit, aber immer noch in tiefer Sorge über die Zurückgelassenen, insbesondere Irmas Vater. Hermann hatte bereits 1932 vor seiner Verhaftung wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten einen Teil seines Besitzes verkaufen müssen und lebte und arbeitete seither mit seinem Bruder Gustav zusammen im Nachbarhaus in Ruppichteroth. Sein Vater Simon Gärtner war am 7. Juli 1937 verstorben. Im Frühjahr 1938 wurde Hermann von einem Polizisten gewarnt, dass er erneut verhaftet werden sollte und entschied sich, in die Niederlande zu fliehen. Wir wissen nicht, ob er Kontakte zu jüdischen Viehhändlern in den Niederlanden hatte, aber er fand eine Unterkunft in Achttienhoven, Westbroek bei Utrecht. Es war ein ländliches Dorf, in dem mehrere jüdische Flüchtlinge untergekommen waren. Die Bauern dort waren immer noch in der Lage, Arbeit und Verpflegung bereitzustellen. Hermann wurde “der grüne Jude” genannt, weil dies die Farbe seiner einzigen Jacke war, die er jeden Tag trug.

Irmas Bruder Paul gelangte von Haiffa via Le Havre im September 1938 in die Vereinigten Staaten. Im September 1938 beantragte Hermann ein Visum, um seinen Kindern in die USA zu folgen, aber es war aussichtslos. Die Quoten waren auf Jahre hinaus ausgeschöpft. Er war bereits alt, litt seit dem ersten Weltkrieg an Ischias und alle Versuche, ein benötigtes Konto in den USA zu eröffnen schlugen fehl wegen unerfüllbarer Voraussetzungen. Es war ein Teufelskreis. Das Amerikanische Konsulat in Rotterdam bat ihn von weiteren Anfragen abzusehen, da dies das Verfahren nur verzögere. Irma versuchte weiterhin ein Visum für Kuba zu besorgen aber auch diese Hoffnung zerschlug sich. Nach einem kurzen Aufenthalt in Zuider Amstellaan, Amsterdam, wurde Hermann im September 1942 verhaftet, endgültig ins Durchgangslager Westerbork gebracht und nach Auschwitz deportiert. Dort kam er sechs Tage später, am 24. September 1942 ums Leben.


Hermann Gärtner schrieb am 12. November 1933 ein Gnadengesuch an Hermann Göring, den preussischen Ministerpräsidenten, nach Berlin (Quelle: Landesarchiv Rheinland, Duisburg, Ger.-Rep. 112 / 16379):

Ich wende mich an Sie Herr Ministerpräsident, mit der Bitte um Begnadigung, als alter Frontkämpfer und als ehemaliger activer Soldat.

Ich bin nach Verbüßung einer ungefähr 6 wöchentl. Schutzhaft, außerdem zu 10 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil ich mich an meinem Geburtsort Ruppichteroth einer einzelnen Person gegenüber geäußert haben soll, in Marburg läge eine Anzahl Juden, welche von Mitgliedern der Partei geschlagen worden sein sollen. Die Vorgeschichte ist kurz folgende:
Jetzt 58 Jahre alt habe ich activ in den Jahren 1898-1900 in Ehrenbreitstein im Regt. 1. von Göben 2. Rhein. No 28 gedient. Bin kurz nach Ausbruch des Krieges an die Front, habe 2 ¼ Jahr, wie aus meinem durch Ofizial [?] Rechtsanwalt Dr. Clementz Köln dem Gericht vorgelegten Militärpapieren hervorgeht, ununterbrochen dort gewesen und an zahlreichen Schlachten teilgenommen. Von da bin ich als schwer Kranker in die Heimat zurückbefördert worden. Nach einem halbjährigen schweren Krankenlager bin ich wieder zu meinem Ersatzbatallion zurück. Sowohl während der activen Dienstzeit als auch als Frontsoldat lautete mein Zeugnis Führung gut, Strafen keine.

32 Jahre gehöre ich an meinem Geburts- und Heimatort Ruppichteroth dem Kameradschaftl. Kriegerverein an, galt stets als treuer Staatsbürger, so habe ich als erster 50 RM zur Errichtung eines Denkmal für de Gefallenen des Weltkrieges gestiftet. Für meinen Leumund benenne ich die folgenden Persönlichkeiten aus Ruppichteroth als Zeugen:
1. Herrn Bürgermeister Manner
2. Herrn Pfarrer Karl Werner
3. Herrn Pastor Wilh. Zeiler
Meine erste Frau ist einige Jahre nach dem Weltkrieg verunglückt. Ich stehe mit 2 Kindern von denen mein Sohn noch der Erziehung bedarf, ohne Vermögen da, muß außerdem noch teilweise meinen im 90. Lebensjahr stehenden Vater ernähren. In dieser Lage traf mich nach alledem die auch über meine Metzgerei am 1. April verhängte Boykottierung meines Geschäftes besonders schmerzlich. In diesem [?]lischen Zustand habe ich sonst stets auch als nüchtern bekannt, meinen Schmerz im Alkohol töten wollen und in der Verfassung soll ich die Äußerung getan sein. Brauche ich nach einem solchen Vorleben noch besonders hervorzuheben wie sehr ich den angeblichen Ausspruch bereut habe!

Darum, Herr Ministerpräsident, bitte ich Sie Gnade vor Recht ergehen zu laßen, und mir den Rest der Strafe zu erlaßen, nachdem ich bis jetzt bereits 7 Monate insgesamt für die unselige Bemerkung Strafe verbüßt habe.

Sie erweisen damit einer hohen Gnaden[?] einem guten Bürger und seiner Familie und ich bitte überzeugt sein zu wollen, daß ich mich einer derartigen Wohltat in Zukunft würdig zeigen werde.

Ganz ergebenst
Hermann Gärtner

Antwortnotiz aus dem Büro des Justizministers vom 21. Dezember 1933:

Verfg.

1.) Zu schreiben an Gärtner
Auf das Gesuch vom 12.11.1933 u. auf das an mich gerichtete Gesuch vom 5.11.1933 habe ich keine Veranlassung gefunden, einen Gnadenerweis in irgendeiner Form zu befürworten. Auf Grund der mir durch § 47 Abs. 3 des Pr. Strafvollstreckungs- und Gnadenrechts vom 10. August 1933 (G.S. S.293) erteilten Ermächtigung, bescheide ich Sie hiermit im Namen des Herrn Justizministers ablehnend.

Im Oktober 1941 schrieb Hermann Gärtner aus Amsterdam an seine Tochter Irma in den USA:

Hermann Gärtner's letter to Irma and Hugo from Amsterdam, October 1941
Brief von Hermann Gärtner an Irma und Hugo Tobias, Oktober 1941

Lieber Hugo, Irma u. Walther!

Euer Roshhaschono Brief kam pünktlich am 2. Tage als ich aus der Synagoge kam, war er da; und habe mich wie immer sehr damit gefreut. Die Feiertage sind g.s.D. gut vorbei gegangen. Die letzten Tage Suckotts war ich bei den Lieben in Amsterdam, und sind es immer schöne Erinnerungen für mich. Morgen Dienstag kommt Henry Kahn u. seine Frau mich besuchen. Die Feiertage waren jedoch für viele sehr anstrengend. Daran kann man nichts thun und kein Mensch kann seinem Schicksale entgehen. Liebe Kinder ich darf es nicht brüsten gesundh. geht es mir g.s.D gut und freue mich wenn ich morgens an meine Arbeit gehen kann, das hilft mir über manches hinweg. Von Onkel Gustav bekomme ich viel Post, er schickt mir fortwährend Geld, jedoch soll ich dafür schicken. Ich thue es soweit es eben möglich ist. In Amsterdam habe ich viele Bekannte getroffen. Ellas Tochter Eva ist ein grohses schönes Mädel. Lieber Hugo Mayers Töchter Schwestern von Sally wurden mir auch vorgestellt und so viele. Herm. Moses Rosbach begegnet mir auf der Strahse und Ferdinand [Strausz, Anm.] von Dierdorf seine Töchter sind in Amst. verheiratet. Amsterdam zählt 90.000 jüdische Seelen und ist eine wunderbare Stadt. Was nun des weiteren Inhalt von Paul betrifft so könnt Ihr Lieben Kinder vielleicht in letzter Stunde auch noch einmal etwas für mich thun. Sonst kann ich Euch nichts mehr zur […] schreiben. Vor allem Liebe Kinder bleibt gesund und schreibet mir sehr bald. Was sagt Ihr denn zu der neuen Angelegenheit mit Paul und Ruth. Ich will auch einmal ein Urteil u. Ansicht von Euch hören. Da Ihr doch inzwischen die Fam. doch sicher kennen gelernt habet. Also Liebe Kinder laßt von Euch hören. Ich wünsche Euch allen ferner alles alles Gute und bin mit den herzl. Grühsen für Euch alle Euer Vater.


Stammbaum:

Generation 1

  • Hermann Gärtner (1876-1942) ∞ Selma Mayer (1880-1924) Ruppichteroth

Generation 2

  • Simon Gärtner (1844-1937) ∞ Regina Nathan (1847-1902) Ruppichteroth

Generation 3

  • Salomon Gärtner (1808-1871) ∞ Veronica Mayer (1813-1855) Kobern-Gondorf
  • Nathan Nathan (1814-1880) ∞ Schöngen Katz (1812-1898) Ruppichteroth