Warum? Darum!

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Am Anfang stand die Geschichts-Hausaufgabe unserer Tochter: Schreibe Deine Vorfahren bis zu den Urgroßeltern auf! Während es meinerseits darüber hinaus schon einen Stammbaum bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts gab, brach die Linie meines Mannes  beim Urgroßvater ab. Was war davor? Vor dem jüdischen Großvater Albert Tobias, der das Dritte Reich nicht überlebte? Und was genau war eigentlich passiert?

Ehemaliges Geschäftshaus von Albert Tobias
Ehemaliges Geschäftshaus von Albert Tobias in Solingen-Wald

Die Vergangenheit war für die direkten Angehörigen zu schmerzhaft zu erinnern, niemand wollte reden als man noch hätte fragen können, es gab keine Erinnerungsstücke, keine Fotos, keine Briefe, keine Erzählungen. Einzelne Informationsfetzen: Alberts Vater ein Metzger aus Neuwied?

Die Suchmaschinen hatten bislang immer nur Albert Tobias aus Köln-Porz gefunden, einen jüdischen Metzger, nach dem heute sogar ein Weg benannt ist. Diesmal aber, im September 2011, irgendwo auf der dritten Seite der Suchergebnisse, in einem Stammbaum aus den USA: Albert Tobias, Sohn von Moses und Jettchen Tobias aus Heimbach-Weis, Neuwied. Mit diesen Informationen war die Neuwieder Herkunft schnell geklärt und die Überraschung groß: Es gibt nicht nur den Stolperstein in Solingen sondern auch einen vor Alberts Elternhaus in Heimbach! Rolf Wüst vom Deutsch-israelische Freundeskreis Neuwied hatte sich darum bemüht und stellte den Kontakt zu Alberts Nichten her, bislang völlig unbekannte Angehörige. „Ja, sicher kenne ich den Albert! Der war doch wie ein zweiter Vater für mich“, hörten wir kurz darauf am Telefon die 78-jährige Elfriede erzählen. Ihr Vater Max habe Albert aus Dachau geholt und bis zu seiner Deportation lebte er bei ihrer Familie in Köln. Leider starb Elfriede ganz plötzlich vor unserem ersten persönlichen Treffen. Sie hätte sicherlich einiges zu erzählen gehabt. Sie sollte jedoch nicht die einzige unbekannte Verwandte bleiben, die wir im Laufe unserer Recherche kennenlernten.

Wir erfahren, dass es eine Gestapoakte im Landesarchiv Düsseldorf gibt. Wochen später stoße ich auf die Datenbank Last letters from Lodz auf jewishgen.org. Darin gelistet ein Brief von Albert Tobias vom 2. Mai 1942. Er bittet um Aussetzung seiner „Umsiedelung” nach Kulmhof. Stempel: Abgelehnt. Das „verschollen in Lodz” weicht der Gewissheit „vergast in Kulmhof Anfang Mai 1942”.

Trotzdem sind noch viele Dinge unklar. Warum ist Albert nicht ausgewandert, so wie es sein Bruder Max in einem Schreiben an die Lagerleitung in Dachau angekündigt hatte? Wie konnte er sein Geschäft bis zum November-Pogrom 1938 mit offenbar sehr guten Umsätzen betreiben? Wie hat es seine Frau geschafft, ihre beiden Söhne nach 1942 vor der zunehmenden Verfolgung von „Halbjuden” zu schützen?

Daneben gibt es auch Familienmitglieder, denen die Auswanderung vor 1940 gelang, die heute hauptsächlich in Connecticut leben und weiterhin dem jüdischen Glauben angehören. Robert Tobias aus Hartford ist derjenige, der den Stammbaum von Tobias Herz ins Netz stellte, der mich auf die Spur von Alberts Vorfahren brachte. Wir korrespondieren rege, ich kann vor Ort in Deutschland recherchieren, übersetzen, er hat wiederum Dokumente, die seine Verwandten in die USA retten konnten. So entwickelte sich das Puzzle einer weit verzweigten Familie, die zu Beginn rund um Puderbach und Dierdorf angesiedelt war, typische jüdische Händlerberufe ausübte, dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts weitere Kreise zog, sich beruflich emanzipierte, um schließlich jäh auseinander gesprengt zu werden.

Mein Dank gilt denjenigen, die sich teils schon seit Jahrzehnten in ihren Gemeinden bemühen die jüdische Geschichte aufzuarbeiten, mitunter gegen große Widerstände; denjenigen, die Stunden ihrer Zeit in die Auswertung von Dokumenten investieren, um sie der Allgemeinheit zugänglich zu machen; denjenigen, die eine breite Öffentlichkeit ermöglichen – Museen, Institutionen und private Initiativen, darunter vor allem das NS-Dokumentationszentrum Köln, das uns viele Informationen geliefert hat, z.B. aus dem Staatsarchiv Lodz. Den größten genealogischen Brocken hat Dr. Ted Tobias aus New Jersey gewälzt, indem er Dokumente der jüdischen Gemeinden aus dem Landesarchiv Koblenz zu Stammbaumlisten zusammengesetzt und fortgeschrieben hat. Fast alle Arbeiten über Juden aus dem Westerwald bauen auf diesem Datenschatz auf.

Viele jüdische Friedhöfe sind heute in Deutschland letzte steinerne Zeugen. Sie stehen unter Denkmalschutz, aber der Zahn der Zeit nagt an ihnen und leider gelegentlich auch rohe Gewalt. Mehr und mehr Stolpersteine ersetzen den Ort der Erinnerung für diejenigen, die weit weg von zu Hause ermordet wurden und keine letzte Ruhestätte haben sollten.

Im November 2011 waren wir in Israel und haben die Gedenkstätte Yad Vashem besucht. Im Sommer 2012 sind wir das erste Mal in den Osten gereist, haben Lodz, Kulmhof/Chelmno und Riga besucht. Im April 2013 kam Robert Tobias das erste Mal mit seiner Familie nach Deutschland und im Oktober 2014 fand der Gegenbesuch in New York und Connecticut statt.

Ich hoffe, dass sich das Puzzle weiter entwickeln wird, weitere Kontakte entstehen, Antworten gefunden, aber auch neue Fragen gestellt werden können.

Daniela Tobias, Solingen November 2014

A grave stone for Hermann Tobias could be placed at the Jewish cemetery of Cologne-Bocklemünd in 2013
Auf dem jüdischen Friedhof in Köln-Bocklemünd konnte 2013 ein Grabstein für Hermann Tobias gesetzt werden.